FRANZ MECHSNER, WIE DENKT DER MENSCH, GEO 2/97

DenkschemaAnkereffektDenkpause
[...] Offensichtlich versuchen die meisten Menschen, solche Aufgaben mit minimalem Aufwand zu lösen - mit bekannten, eingeübten oder sich unmittelbar ergebenden Verfahren. Erst wenn sich die Hoffnung nicht erfüllt, daß die Lösung sich irgendwie von selbst einstellt, schalten sie gewöhnlich um zur etwas anspruchsvolleren Strategie: dem expliziten Nachdenken. Doch dann zieht auch kaum ein Mensch sofort ungewöhnlichere Lösungsstrategien in Betracht. Vielmehr beharren fast alle immer - oft in unerschütterlicher Sturheit - auf einer untauglichen Denkmethode, do daß sich an die erste Phase hoffnungsvoller Gedankenarbeit abermals ein sinnloses Herumprobieren anschließen kann. Man weiß nicht weiter, kommt aber trotzdem nicht auf die Idee, das eingefahrene erkanntermaßen unnütze Denkschema zu überprüfen. Tatsächlich wird viel von uns verlangt: Einerseits besteht praktisch alles Lernen im Training von Gewohnheiten. Deshalb beruhen die meisten Alltagstätigkeiten und beruflichen Fähigkeiten auf automatisierten Denkabläufen. Andererseits wird Kreativität gefordert und daß wir vernetzt, schöpferisch und jedenfalls außergewöhnlich denken. Die Erwartung aber, beiden Ansprüchen zu genugen, ist ein Paradox des menschlichen Geistes. "Denken heißt Überschreiten" formulierte Ernst Bloch. Kreatives oder "produktives" Denken geht stehts über die Gewohnheit hinaus, stellt bekannte Verhältnisse in Frage. Dabei ist unter Gewohnheit die Art und Weise zu verstehen, wie Wahrnehmung und Vorstellung unablässig zu "Gestalten" verknüpft werden. [...] Bedenklicherweise neigen Menschen dazu, dürftige Informationen unbewußt durch beliebiges zu ergänzen. [...] Wenn man nichts über einen Sachverhalt weiß, hät man sich anscheinend gern an x-beliebigen, aus irgendeinem Grund kräftig wirkenden Informationen fest, selbst wenn diese mit dem Problem absolut nichts zu tun haben. Psychologen nennen das Phänomen "Ankereffekt" : Das schlicht sichtbare dominiert die Vernunft. Diese Macht neuer, leicht erinnerbarer oder unmittelbar präsenter Information ist eine der stärksten Verführungskräfte für das menschliche Denken: Derjenige fürchtet sich am meisten vor einem Autounfall, der gerade einen erlebt hat; hingegen läßt jemand leicht alle Vorsicht außer acht, der noch nie einem Unfall begegnet ist. Solche Tendenz des Denkens hat nicht nur die Tschernobyl-Ingenieure zu ihren Nachlässigkeiten verleitet. Bis jedoch eine anscheinend selbstverständliche allgemeine Überzeugung sich als irreführende Denkgewohnheit entpuppt, vergehen mitunter Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Meist bedarf es dazu einer regelrechten wissenschaftlichen Revolution. Offensichtlich fällt es uns schwer, einmal geglaubte und verstandene Erkärungen in Frage zu stellen und uns der damit verbundenen Unsicherheit auszusetzen. [...] "Mach mal Pause", scheint in der Tat eine der wirksamsten Denkhilfen für den zu sein, der nicht mehr weiter weiß. Doch warum? Wahrscheinlich, weil es eine Art "produktives Vergessen" gibt: Mit der Zeit, bei verminderter Aufmerksamkeit, lösen sich Fixierungen und Ankereffekte auf, blockieren die falschen Strategien, in die man sich zuvor verbissen hat, den Geist nicht mehr, so daß sich in der neuen Gedankenfreiheit - die Lösung einstellen kann. Führen die rigiden, stark kontrollierenden angestrengten Denkprozesse nicht zum Ziel, ist es offenbar sinnvoll, sich für eine Weile dem eher chaotischen Spiel unser "Basisphantasie" zu überlassen. "Da unten bildert es immer", sagte Ernst Bloch. Unablässig erzeugt das Gehirn neue Assoziationen, läßt Gedächtnisfetzen auftauchen und wieder verschwinden, spinnt Phantasieszenen weiter bis ins Verrückte. Hin und wieder tauchen aus dem Chaos brauchbare, höchst produktive Gedanken auf. Festgefügte Vorstellungen scheinen zu zerfallen und sich neu zu gruppieren mit frisch aufgewühlten Assoziationen und Erinnerungen. Und die Chance, daß dabei spontan etwas Ungewöhnliches entsteht, scheint mit der veringerten Kontrolle zuwachsen. Außerdem bieten Denkpausen eine größere Chance, daß zufällig Gesehenes oder Gehörtes durch "Resonanz" zur Klärung eines Problems beiträgt. [...]

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Photo: RAOUL HAUSMAN, 1918, Assemblage