JEAN DUBUFFET, ANTIKULTURELLE STANDPUNKTE

[...] II. Der abendländische Mensch glaubt, durch sein Denken eine vollkommene Erkenntnis der Dinge zu erlangen. Er ist überzeugt, daß der Lauf der Welt dem Gang seiner Gedanken gleicht. Er glaubt fest, daß die Grundlagen seiner Vernunft und besonders die seiner Logik fest begründet sind. Der 'primitive Mensch' hält Logik und Vernunft eher für ein Gebrechen und vertraut sich lieber anderen Wegen an, um die Dinge zu erkennen. Deswegen schätzt und bewundert er die Geistesverfassungen, die wir als Rauschzustände bezeichnen. Ich muß gestehen, daß mich der Rausch aufs lebhafteste interessiert, und ich überzeugt bin, daß die Kunst sehr mit ihm zusammenhängt.

Ich will nun von der Ehrerbietung der abendländischen Kultur vor fertig ausgearbeiteten Begriffen sprechen. Sie scheinen mir nicht das beste Ergebnis menschlicher Tätigkeit zu sein. Sie scheinen mir eher als eine kraftlose Stufe des Denkvorgangs: ein Bezirk, den die Denkmechanismen nur geschwächt erreichen, eine Art äußerer, durch Abkühlung entstandener Kruste. Die Ideen sind wie ein Dampf, der bei der Berührung mit dem Bereich der Vernunft und Logik zu Wasser kondensiert. Ich glaube nicht, daß sich das Beste des Denkvorgangs auf dieser Ebene vollzieht. Jedenfalls interessiert er mich dort nicht. Ich trachte vielmehr danach einen Gedanken in seiner Entwicklung zu fassen, - weit vor der Ebene der ausgearbeiteten Begriffe. [...]



Photo: UTA KOHRS, 1991, Wie fließen die Ströme in den Gehirnen? Installation

[...] V. Der fünfte Punkt ist der, daß unsere Bildung völlig auf einem unbegrenzten Vertrauen in die Sprache beruht (besonders in die geschriebene) und auf dem Glauben in ihre Fähigkeit, das Denken zu übersetzen und auszuarbeiten. Das aber sehe ich als Irrtum an. Die Sprache macht mir den Eindruck einer groben, ja sehr groben Stenographie; sie ist ein System von ganz rudimentären algebraischen Zeichen, das den Gedanken verdirbt, statt ihm zu dienen. Das gesprochene Wort dagegen scheint mir viel anschaulicher und wirkungsvoller als das geschriebene, da es durch Stimmlage und Tonfall, ein wenig Husten, Grimassen, durch eine ganze Mimik eben belebt wird. Die geschriebenen Sprache scheint mir ein schlechtes Werkzeug zu sein. Als Instrument der Mitteilung vermittelt sie vom Gedanken nur die Leiche: das, was vom Feuer als Schlacke übrigbleibt. Als Instrument des Denkens beschwert die Sprache die Flüssigkeit des Gedankens und entstellt ihn. Ich glaube (und damit stimme ich mit den primitiv gehaltenen Zivilisationen überein), daß die Malerei anschaulicher ist als das geschriebene Wort und daß sie ein sehr viel brauchbareres Werkzeug ist, Gedanken zu vermitteln und auszuarbeiten. [...]